Editorial - Alles total normal?

Ob man nun »für« oder »gegen« Computer ist, es stellt sich nicht mehr die Frage, ob man Kinder mit ihnen konfrontiert, sondern wie man es tut. Seit gut einem Jahrzehnt gibt es den persönlichen Computer und von der vielbestaunten Wundermaschine ist er für viele inzwischen zum alltäglichen Werkzeug geworden.

Im Gegensatz zu vielen anderen Lehrinhalten der allgemeinbildenden Schulen ist der Computerunterricht ein Bereich, mit dem sich viele Kinder und Jugendliche auch gern in der Freizeit beschäftigen, und oft Fähigkeiten wie Interessen entwickeln, die weit über dem Niveau anderer Fächer liegen.

Doch statt sich über das Engagement zu freuen, es zu fördern und vor allem sinnvoll zu lenken, erhebt sich warnend der pädagogische Zeigefinger: Kinder, die sich mit Computern beschäftigen, würden sich abkapseln, soziale Kontakte scheuen, sich mit Videospielen in eine Fantasiewelt flüchten und wären dann nicht mehr in der Lage, Probleme der realen Welt zu meistern. Um arme Eltern vollends zu erschrecken, wird von einem Studenten berichtet, der in ein Krankenhaus einbricht, um dort aus einem Versteck heraus einen Großrechner zu programmieren. Er wird anschließend in psychatrisehe Behandlung genommen.

Computerspiele sind ja sowieso eine Droge. Die Kinder hocken vor dem Bildschirm und kämpfen immer wieder gegen Weltraumaliens an. Obwohl sie wissen, daß der Computer Sieger bleibt, fangen sie immer wieder an - genau wie beim Kater des Alkoholikers am nächsten Morgen. Der Schluß, zu dem ein besonders pessimistischer Zeitgenosse kommt: seiner Meinung nach vollendet der Computer, was Digitaluhren und Comix bereits in die Wege geleitet haben: eine weitere Abkehr von unserer Sprach- und Schriftkultur sowie einen Mangel, in größeren Zusammenhängen zu denken.

Wenn man diese Vorwürfe hört, muß man nach Jahren der Computerarbeit beunruhigt in den Spiegel schauen, um sich zu vergewissern, daß man nicht schon den irren Blick hat. Wenn die vorgebrachte Kritik auch in einzelnen Fällen zutrifft, so ist diese Darstellung doch recht einseitig. Für negative Tendenzen in der Gesellschaft kann nicht ausschließlich der Computer verantwortlich gemacht werden, nur weil sich ein konservativer Erwachsener ärgert, daß ein Zehnjähriger von einer Sache mehr versteht als er selbst. Dabei ist es allerdings auch Aufgabe der Schule, auf diesem Gebiet nicht nur Programmierkenntnisse zu vermitteln, sondern gerade mit den »Freaks« über solche Einschätzungen zu diskutieren.

Der Computer verstärkt lediglich die persönlichen Neigungen: niemand wird durch den Rechner zum Einzelgänger, aber wer dazu veranlagt ist, hat nun mit dem universellen Partner weniger Grund, die Eigenbrötlerei aufzugeben. Wer dagegen kontaktfreudig ist, kann über Klubs, Kurse oder Datenfernübertragung weltweit Freundschaften schließen, die dann oft über den gemeinsamen Nenner Computer hinausgehen. Und dabei kann man durchaus ganz »normal« bleiben.

Ihr diesem Sinne


Thorsten Luhm
Aus: ST-Magazin 08 / 1993, Seite 3

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