Sequenzer X-Ess: Bis zum »X-Ess«

MIDI-Sequenzer auf der Basis von Personal Computern haben nun gut zehn Jahre intensive Entwicklung hinter sich. Kein Wunder, daß es seit geraumer Zeit auf diesem Sektor wenig oder gar nichts Neues zu erfinden gab. Aber jetzt kommt »X-Ess«!

Mit knapp 400 Mark liegt X-Ess gerade mal bei der Hälfte des Preises, den MIDI-Fans normalerweise für einen professionellen Atari-Sequenzer auf den Ladentisch blättern. Freilich gilt diese Einführungsaktion vorerst nur bis 31. März 1992 — danach will sich der deutsche Vertrieb Laserware Encom erneut Gedanken um den Verkaufspreis machen. Doch nicht allein der Preis läßt aufhorchen.

Ein völlig neuartiges Konzept für die Berechnung der abzuspielenden Noten sorgt für exaktes Timing — die revolutionäre Fehlerkontrolle und -beseitigung (MIDI-Autocorrection-Sync) bei externer Synchronisation ist davon quasi nur ein Nebenprodukt.

»Funktionsvielfalt um jeden Preis ist nicht angesagt«, versichert uns Chefprogrammierer Roger Ashauer, »vielmehr wollen wir dem Musiker schon bei Basisfunktionen, ich denke da an das Ein- oder Ausschalten bestimmter Noten, hilfreich zur Seite stehen.«

Schicht für Schicht

Diesen Anspruch verwirklicht X-Ess durch eine spezielle »Layer«-Technik. Eine typische Situation: In einer acht Takte langen Phrase wollen wir zu einer Drum-Kit-Spur auf einem seperaten Track eine Bass-Phrase synchronisieren. Meist entstehen solche Begleitspuren durch Improvisation. Der betreffende Teil wird geloopt und während der Bassist das Schlagzeug mithört, zeichnet der Sequenzer im Cycle-Mode jeden Durchgang auf.

Genau hier setzt X-Ess an: Während nämlich die renommierten Modelle im Cycle-Modus nur zwei Alternativen zur Behandlung der aufgezeichneten Noten kennen, fügt X-Ess eine höchst interessante Variante hinzu: den Layer-Modus. Im »Replace«-Mode wird bei jedem Durchgang die Aufnahme neu gestartet, alle vorher gespielten Variationen sind verloren und der »Mix«-Mode zeichnet einfach alle MIDI-Events auf, ohne daß es möglich wäre, die einzelnen Aufnahmen wieder aufzusplitten. Gerade das ist für X-Ess eine leichte Übung: Jede einzelne Variation ist bei der Layer-Technik noch vorhanden. Jede Spur ist nämlich bis zu 32 Ebenen tief! Eigentlich hätten Sequenzer grundsätzlich schon immer so funktionieren müssen!

Natürlich kann man beliebig zwischen den Schichten kopieren, schneiden und editieren oder jedes Layer seperat ein- oder ausgeschalten. Die Layer-Technik bietet darüber hinaus noch weitere angenehme Nebeneffekte: Spuren lassen sich beliebig zusammenmischen und auftrennen.

Die direkte Abhörkontrolle

Fast alle teueren Sequenzer — das gilt nicht nur für Atari, sondern im besonderen auch für die angeblich so überlegenen Macintosh-Modelle — haben ein unsägliches Manko: Ändert man bei laufendem Sequenzer im Editor auch nur eine Kleinigkeit in der MIDI-Event-Liste, dann stoppt die Wiedergabe. Aber gerade dies ist im höchsten Maß musikerfeindlich. Schließlich will er seine Änderung sofort akustisch überprüfen. Eine Ausnahme ist hier Steinbergs »Cubase 2.0«-Sequenzer dank dem eigenen multitaskingfähigen Betriebssystem »M-ROS«. Daß dies auch möglich ist, ohne die gesamte Rechnerkonzeption umzubiegen, beweist X-Ess. Chefprogrammierer Ashauer sieht dies so: »Wir waren auf der Suche nach neuen Wegen, um Bewährtes besser und rationeller zu programmieren. Besonders stolz sind wir auf die direkte Abhörkontrolle innerhalb der Editoren.« Das mit gutem Grund: Präzises Scrollen und Zoomen funktioniert selbst bei »laufendem Motor« perfekt.

Fehlerhafte Synchronspuren

Das ließ schon so manche Produktion kurz vor der Endabmischung platzen: Aus scheinbar unerfindlichen Gründen versagt das Sync-Signal. Erst ist es kaum zu hören, aber gegen Ende des Titels besteht kein Zweifel: Der Gesang und was sich noch alles auf der analogen Mehrspurmaschine befindet, läuft dem Sequenzer davon. Irgendwo auf dem Band sind mikroskopisch kleine Beschichtungsfehler — der Synchronisationmechanismus überspringt ein paar Ticks. Damit ist die Arbeit unbrauchbar.

Wer allerdings mit X-Ess arbeitet hat Glück: Ohne Hardwarezusatz überlistet die »MIDI-Autocorrection-Sync«-Einheit gefürchtete »Drop-Outs«.

Die Hauptarbeitsfläche in X-Ess

Überlegene Struktur

Songs komponiert X-Ess nach dem Vorbild der ersten Drum-Computer — freilich um einiges raffinierter! Die einzelnen Parts bestehen jeweils aus 32 Spuren. Standardnamen wie »Take 1« vergibt der Sequenzer automatisch. Im Song-Editor entstehen mit der Teileliste fertige Kompositionen. Der Clou: Parallel zur Song-Struktur läuft ein Tape mit weiteren 32 Spuren. Somit sind nun auch im Song-Mode weitere Aufnahmen möglich — sowohl auf einer der 32 Tape-Spuren als auch auf den Spuren des jeweils selektierten Parts. Damit können Auftakte oder spezielle Breaks recht bequem realisiert werden.

Im Song-Editor sind Parts in ihrer Länge variabel, d.h. Part 1 könnte mal zwei Takte und ein anderesmal vier Takte lang spielen. Dazu gehört zu jedem Listeneintrag eine separate Kombination zur Stummschaltung einzelner Spuren. Damit kann ein Part bei Wiederholungen völlig unterschiedlich klingen.

X-Ess ist ein Sequenzer, der sich das Prädikat »intelligent« redlich verdient hat: So ahnt X-Ess förmlich die nächsten Locator-Positionen — führt ordentlich Buch über sämtliche Aktionen und bietet raffinierte Editoren zur Bearbeitung: Der grafisch orientierte Vektor-Editor arbeitet mit der üblichen Balkendarstellung — ein Keyboard am linken Rand dient zur Orientierung. Der Impact-Editor verwendet Listen. Notendarstellung ist vorgesehen, aber vorerst noch nicht implementiert. Auch das Modul »X-Ess« ist z. Zt. noch in Arbeit, Ashauer verspricht hier aber einen weiteren Hammer: Eine völlig neuartige Kompositionshilfe soll entstehen. Die wird’s leider nicht automatisch per Update geben, vielmehr teilt sich X-Ess künftig

Die neue Layer-Technik

in eine B-Version ohne Kompositionshilfe und ein Komplettmodell, die A-Version. Geschützt ist das Programm mit einem Hardware-Dongle. Normalerweise tastet sich der MIDI-Musiker an eine Ideallösung heran. Er ahnt meist, wohin er will, welche Phrase noch fehlt oder wo eine Verzierung zuviel ist. Ist der ideale Riff gefunden, paßt oft noch eine winzige Kleinigkeit nicht. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail.

Wie war es bisher? Statt die Stop-Taste zu drücken — damit der Sequenzer weiß, diese Aufnahme wollen wir erstmal behalten — versucht unser Bassist noch einen weiteren Take. Sie ahnen es: Der Gitarrist fand die letzte Phrase eigentlich doch besser, der Sänger hätte gerne den Anfang des vorletzten Takes, dazu aber den Schluß aus der neuen Phrase und der Bassist ist mittlerweile so verwirrt, daß er überhaupt den ganzen Riff vergessen hat und dafür etwas ganz anderes im Half-Time-Groove anbietet. X-Ess speichert alles und bietet sämtliche Variation zum Vergleich. Ein paar Kopien und die Ideallösung steht.

So macht MIDI wieder Spaß!

Damit gehen die besten Ideen nicht mehr verloren! Beim Improvisieren kümmert sich der Musiker nur ums Wesentliche! Ob der aktuelle Take nun das Non-Plus-Ultra war oder nicht, das soll später entschieden werden — so etwas stört kreative Prozesse nur unnötig.

Es wundert eigentlich nur, weshalb es so lange dauerte, bis dieser »Cycle-Replace-Unsinn« eliminiert wurde.

Der kombinierte Tape/Song-Modus mit 64 Spuren

WERTUNG

X-Ess

Hersteller: Roger Ashauer & Guido Kruska
Vertrieb: Musik-Fachhandel, Laserware Encom
Preis: 399 Mark

Vorteile: 32 Schichten pro Spur durch Layer-Technik, Editieren bei laufendem Sequenzer, raffinierter Song-Modus, intelligenter Locator, 240 Parts, 64 Spuren, Daten-Optimizer

Einschränkungen: noch keine Notendarstellung, Kopierschutz durch Dongle

Fazit: So hätten MIDI-Sequenzer immer schon funktionieren sollen.

Vertrieb: Laserware Encom, Roßstr. 16, 4000 Düsseldorf 30

Komfortables Editieren im Listeneditor »Impact«

Manfred Neumayer
Aus: ST-Magazin 01 / 1992, Seite 38

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