Die Geschichte ATARIs (3)

Ende der 80er Jahre war aus Atari eine Firma geworden, die ihren Umsatz hauptsächlich in Europa erzielte. Dachte man in Amerika beim Namen Atari hauptsächlich an Spielkonsolen und -Automaten, so etablierte sich der Atari in Europa mehr und mehr im professionellen Bereich. Der Mega ST wurde zusammen mit der Layout-Software Calamus im DTP-Bereich ein ernstzunehmender Konkurrent zu der in diesem Segment immer noch führenden Firma Apple.

Gleichzeitig hatte man im MIDI- und Studiomarkt ein starkes zweites Standbein etablieren können. Beide Bereiche verlangten aber nach mehr Leistung, und so wundert es nicht besonders, dass schon bald nach der Einführung des Mega ST über eine komplett neue Produktlinie auf Basis einer reinen 32-Bit-Architektur gemunkelt wurde. 1988 lüftete Atari dann das Geheimnis und führte einer auserwählten Schar von Entwicklern und Journalisten den TT vor, eine Workstation mit 68020-Prozessor und wesentlich verbesserten Grafikleistungen. Das Betriebssystem sollte UNIX heißen. Diese Entscheidung traf natürlich auf den Widerstand der Atari-Gemeinde, und so machte Atari einen Rückzieher: Von nun an plante man einen TT mit einer verbesserten Version des TOS für den angestammten Markt und einen Highend-TT/X mit einem eigenen UNIX. Allerdings mussten die Atari-Fans noch gut ein Jahr auf den neuen Traumrechner warten, der schließlich im August 1989 zum ersten Mal gezeigt wurde: Statt des 020-Prozessors hatte Atari gleich den noch stärkeren 68030-Prozessor integriert, der mit 16 MHz getaktet wurde. Besonders DTP-Profis konnten sich auf Grafikauflösungen mit bis zu 1280x960 Pixeln freuen, moderne Massenspeicher ließen sich über ein SCSI-Interface anschließen. Gleichzeitig wurdeeine neue, noch komfortablere Version des Betriebssystems TOS vorgeführt. Alternativ dazu sollte das UNIX-Betriebssystem V angeboten werden.

Atari goes UNIX

Im Jahre 1988 verließ Shiraz Shivji, der Chefentwickler des so erfolgreichen Atari ST, die Firma. An seine Stelle trat Roy Good, der hauptsächlich mit der Entwicklung des TT beschäftigt werden sollte. Aufgrund eines Fehlers von Atari Deutschland gelangten seine Spezifikationen für den TT an die Presse, und als Folge berichtete jedes Atari-Magazin detailliert über die Pläne für dieses neue Flag-schiff. Bereits zur CeBit 1989 erwartete die Fachwelt den neuen Atari TT, Atari stellte aber stattdessen seinen ersten Laptop STacy, das Wechselplattenlaufwerk Megafile 44 und die Version 1.4 des TOS für seine ST-Reihe vor. Der TT folgte wie erwähnt erst auf der Atari-Messe im August, wobei die gezeigten sechs Prototypen noch weit von einer endgültigen Version entfernt waren, so funktionierte z.B. der hochauflösende Monochröm-Modus noch nicht zufriedenstellend.

Roy Good hatte die Firma bereits einige Wochen vor der Messe wieder verlassen. Seine Position nahm Richard Miller ein, der später als Vater des Falcon bekannt werden sollte und heute einen streng geheimen Superchip für die Firma VMLabs entwickelt. Unter Richard Miller wurde auch die Weiterentwicklung des Atari-UNIX vorangetrieben. Atari wollte nicht einfach nur eine weitere UNIX-Variante auf den Markt bringen, sondern die Benutzerfreundlichkeit des bis dahin sehr kryptischen Systems verbessern. So sollte z.B. die gesamte Systemadministration durch eine grafische Benutzeroberfläche intuitiver gestaltet werden. Um diese Tools zu entwickeln, benutzte die Entwicklungsabteilung SUN-Workstations.

Genau wie bei Apples UNIX-Port wurde der UNIX-Kernel für den Atari von der britischen Firma Unisoft geliefert. Die grafische Shell und das Oberflächentool FaceMaker kam hingegen von der französischen Firma NSL. Die erste öffentliche Präsentation des TT/X sollte auf der CeBit 1990 erfolgen.

Atari kaufte noch am ersten Messetag ein X-Terminal und brachte es auf dem neuen TT zum Laufen. Präsentiert wurde UNIX System V Release 3.2.

In den Folgemonaten verpflichtete Atari verschiedene Mitarbeiter, um die eigenen System-Administrations-Tools zu implementieren. Gleichzeitig kümmerte man sich um Entwickler und Distributionskanäle. Auch der alte Feind Commodore sprang auf den UNIX-Zug auf und präsentierte eine spezielle Variante seines eigenen 32-Bit-Rechners Amiga 3000 mit einem vorinstallierten System V Release 4. Um nicht den Anschluß zu verlieren, zeigte Atari auf der Atari-Messe '90 einen TT mit UNIX System V Release 3.2, X11R3 und OSF/Motif. Da die Konkurrenz von Commodore und Apple in der Zwischenzeit bereits aufgeholt hatte, überarbeitete Atari seinen TT kurzerhand und konnte ihn schließlich im Spätsommer 1990 an seine Händler ausliefern. Der CPU-Takt betrug nun 32 MHz - der Amiga 3000 brachte es nur auf 25 MHz. Die auf der Messe vorgeführte UNIX-Version sollte allerdings noch nicht verkauft werden, da man intern bereits an einem Release 4.0 des System V arbeitete.

Wiederum verging über ein halbes Jahr, bevor Atari auf der CeBit 1991 seine UNIX-Variante ASV (Atari System V Release 4.0) vorstellen konnte. Obwohl es sich nach wie vor um eine Beta-Version handelte, stellte es erstmals eine komplette UNIX-Distribution für den Atari dar. Auf der Atari-Messe '91 wurde die finale Entwicklerversion vorgeführt, die im November desselben Jahres tatsächlich verkauft werden sollte. Es stellte sich jedoch heraus, dass das träge X-Windows auch auf dem TT keinen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellen sollte, und so kündigte Atari für das Jahr 1992 einen neuen, schnelleren Rechner an: den Falcon040 auf Basis der 68040-CPU von Motorola.

Zu einer Portierung des Atari-UNIX auf den Falcon sollte es allerdings nie kommen: Atari stellte alle Bemühungen in Richtung UNIX im Sommer 1992 ein und verkaufte die letztlich doch noch fertiggestellte finale Version auf der Atari-Messe 1992 als Update an alle Besitzer der bisherigen Entwicklerversion.

Andere Entwicklungen

Ataris Aktivitäten beschränkten sich in dieser Zeit jedoch natürlich nicht ausschließlich auf die UNIX-Welt. In erster Linie wurde der eigene TOS-Markt weiter unterstützt und mit Neuankündigungen und -Veröffentlichungen bedacht. Das amerikanische Unternehmen wurde in dieser Zeit von Sam Tramiel geleitet, einem Sohn des großen Jack, der es sich nicht nehmen ließ, immer wieder persönlich in die Geschicke der Firma einzugreifen. Die Hardware-Entwicklungsabteilung wurde, wie bereits erwähnt, von Richard Miller geleitet, Leonard Tramiel war für die Weiterentwicklung des TOS zuständig, Henry Plummer leitete die UNIX-Gruppe.

Zuständig für den Spielemarkt war John Skruch, unter dessen Leitung 1989 der Atari Lynx veröffentlicht wurde, eine portable Spielkonsole, dessen Grafik- und Soundeigenschaften erst neun Jahre später von Nintendos Gameboy Color erreicht werden sollten. Gleichzeitig versuchte man, Produktionskapazitäten mit der Einführung einer neuen Linie DOS-kompatibler PCs besser zu nutzen. Atari war also auf vielen Märkten gleichzeitig stark vertreten.

1989 war, wie erwähnt, auch das Jahr des STacy, des ersten tragbaren Modells der ST-Reihe. Da auch dieser Laptop über die typischen MIDI-Schnittstellen verfügte, war er wie geschaffen für den Bühneneinsatz. Und noch eine Neuheit hielt das Jahr 1989 bereit: Der 1040 SIE sollte die erfolgreiche 520er- bzw. 1040er-Baureihe endgültig ablösen und den Kampf mit dem besonders in Kinder- und Jugendzimmern verbreiteteren Amiga aufnehmen. Genau wie dieser verfügte der STE über ein Palette von immerhin 4096 Farben, was fotoähnliche Bilder zuließ. Die Soundmöglichkeiten waren ebenso beeindruckend: 8-Bit-DMA-Stereosound sorgte bereits für CD-ähnliche Qualität. Leider war der STE zwei Jahre zu spät am Markt, um den Amiga in seinen Domänen ernsthaft gefährden zu können.

Nachdem 1990 der TT endlich an die Endkunden ausgeliefert wurde, klaffte ein Lücke zwischen dem sehr teuren TT und dem relativ günstigen, aber mittlerweile in die Jahre gekommenen Mega ST. Apple kündigte mit seiner Performa-Reihe preisgünstige Rechner für den Heimanwender und den semiprofessionellen Einsatz an. Atari musste also handeln. Das Ergebnis wurde 1991 vorgeführt: Der Mega-STE vereinte die Fähigkeiten seines kleinen Bruders 1040 STE mit dem Gehäuse und den Erweiterungsmöglichkeiten des TT und konnte zu einem äußerst attraktiven Preis angeboten werden. Angetrieben wurde er von dem bekannten 68000er, der mit 16 MHz voll ausgereizt wurde. Wie der TT konnte er über den VME-Bus mit leistungsfähigen Zusatzkarten erweitert werden.

Auf der CeBit 1991 präsentierte sich Atari endlich wieder als die gewohnt innovative Firma. Vorgestellt wurden zwei neue Rechner, die ihrer Zeit weit voraus sein sollten:

Das STPad war ein ST ohne Tastatur, das ähnlich wie der spätere Apple Newton und der heutige PalmPilot über ein Touchdisplay mit einem Stift bedient wurde und eine Handschrifterkennung besaß. Gleichzeitig wurde das STBook vorgestellt, ein Notebook nicht größer als ein DIN-A4-Blatt auf Basis der 68k-Architektur - praktisch also der Vorläufer des Apple PowerBook. Während das Book Anfang 1992 in einer Auflage von nur 1000 Stück den europäischen Markt erreichte, verschwanden die Pläne für das STPad leider still und klammheimlich wieder in der Schublade - sehr schade.

Die große Zeit Ataris näherte sich langsam dem Ende, da die preiswerten PC-Clones mit dem Betriebssystem Windows nach und nach den Markt eroberten. Um noch einmal erfolgreich zu sein, musste also ein innovatives Produkt her. Atari fand dieses im Falcon ... doch dazu mehr im nächsten Teil.

Bildverzeichnis
6) ST-Book
7) Atari Stacy
8) ST-PAD
9) CDAR - CD-ROM-Laufwerk

(Alle Bilder (wie im Heft) von der "Atari Exhibition": http://www.mazelstar.com/atari.htm)


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 12 / 1999, Seite 61

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